Nationalpark Hohe Tauern

Zwei Generationen,
eine Leidenschaft für Flechten


In den Hohen Tauern gibt es rund 1.100 verschiedene Flechtenarten. Eine Welt, die Roman Türk, graue Eminenz der heimischen Flechtenforschung, und Jana Girstmair, Forschungsstipendiatin im Nationalpark, gleichermaßen begeistert. Wir haben die beiden zum Gespräch über ihr Fachgebiet getroffen.

Seebachtal bei Mallnitz, ein heißer Tag im August. Wir sind noch keine 100 Meter vom Parkplatz in Richtung Stappitzer See gegangen und schon sind Roman Türk und Jana Girstmair in ihrem Element: Cladonia pyxidata, Peltigera canina, Cladonia coniocraea, Cladonia fimbriata, Cladonia furcata und hier eine Hypogymnia tubulosa in schönster Ausprägung. Ein Baumstamm, ein Felsblock, ein im Schatten liegender Ast oder ein immer wieder von Wasser umspülter Stein – Flechten gibt es fast überall. Man muss nur genau hinschauen. Der Universitätsprofessor und die Studentin haben diesen geschulten Blick.
„Flechten brauchen Zuwendung. Man muss sich Zeit nehmen“, rät Türk, um die kleinen Schönheiten zu entdecken, an denen man oft achtlos vorbeigeht. Er hat 2016 ein Standardwerk über die Flechtenflora im Nationalpark Hohe Tauern geschrieben, seit den 1970er-Jahren sind Flechten sein Forschungsgebiet. Seine Faszination für diese Organismengruppe begann, als er an der Universität Würzburg über die Wirkung von Schwefeldioxid auf Flechten und Moose arbeitete.
Die Osttirolerin Jana Girstmair hat kürzlich ihr Biologiestudium an der Universität Graz mit einer Bachelorarbeit über die formenreiche Flechte Lecanora polytropa und ihre mögliche Indikatorfunktion für Veränderungen im Nationalpark Hohe Tauern abgeschlossen. Zu den Flechten ist die Studentin über das Zeichnen gekommen. Die Schönheit und Vielfalt dieser oft winzigen Organismen hat sie nicht mehr losgelassen.

Faszinierende Vielfalt


Auf unserem Weg ins Seebachtal zeigen sich die beiden Forscher:innen gegenseitig winzige rote und schwarze Kügelchen, sanftgrüne Verästelungen, die wie kleine Gabeln aussehen oder schön ausgeprägte Krusten- oder Bartflechten. Ein geschultes Auge, Lupe, Messer, Hammer, Meißel und Papiersäckchen für die Proben: Viel mehr braucht es nicht für die Feldarbeit. Ein Tag in der Natur bedeuten aber sieben Tage Bestimmungsarbeit im Labor, weiß Türk aus jahrelanger Erfahrung. Als er begonnen hat, musste man sich zur Bestimmung auf Mikroskop und chemische Reaktionen verlassen. Heute sind genetische Untersuchungen enorm wichtig. „Manchmal sehen Flechten gleich aus, die Genetik zeigt aber, dass es unterschiedliche Arten sind“, erzählt Girstmair. Die von ihr untersuchte Flechte Lecanora polytropa kann je nach Standort recht unterschiedliche Formen annehmen. Auch das macht sie so interessant.

Überlebenskünstler mit Indikatorfunktion


Flechten sind eine Symbiose aus Pilz und Alge. Sie sind Überlebenskünstler und können trockene Phasen gut überdauern. Sehr empfindlich sind sie gegenüber Luftschadstoffen – deshalb gelten sie als Indikatoren für den Zustand eines Ökosystems. Nur ein Grund, warum die Vielfalt der Flechten in den vergangenen Jahrzehnten stark abgenommen hat. Im Seebachtal ist die Flechtenwelt noch in Ordnung, an diesem Augusttag finden wir dutzende Arten, darunter auch lange Bartflechten und schöne Rentierflechten. Begeistert sind die beiden Forscher:innen von einem großen Wurzelstock, über und über mit unterschiedlichsten Flechtenarten überzogen. Sie nehmen vorsichtig ein paar Proben mit, um unter dem Mikroskop zu bestimmen, um welche Arten es sich handelt. Noch viel faszinierender als die reine Artenbestimmung ist für Türk und Girstmair allerdings, besser zu verstehen, wie das Ökosystem Flechte funktioniert und welche Rolle es für andere Arten – etwa auch für die Wurzelsysteme der Bäume – spielt. „Mich fasziniert, wie alles zusammenhängt“, sagt die Studentin. Deshalb geht sie im Herbst an die Universität Innsbruck, um sich in die alpine Botanik zu vertiefen. Die Flechten werden sie nicht mehr loslassen. Und auch Türk arbeitet an seiner nächsten Publikation, es wird seine 319. Wissenschaftliche Arbeit sein.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Herbst-/Winterausgabe des Nationalparkmagazins 2024/25.

 


Geschrieben von
Claudia Lagler

14.10.2024