Österreichs Nationalparks schützen nicht nur eine außergewöhnliche biologische Vielfalt, sondern sind im Alpenraum auch Zeugnisse der Historie und Kultur. Der Nationalpark Hohe Tauern, ein Schutzgebiet der Kategorie II der Weltnaturschutzorganisation IUCN, widmet sich dem Erhalt ursprünglicher Ökosysteme, der Biodiversität und natürlicher Prozesse. Besonders ist die Unterteilung in Kern- und Außenzone: Während sich die Natur im „oberen Stockwerk“ ungestört entwickeln kann, wird in den Almregionen eine naturnahe Bewirtschaftung gefördert. Dies fördert nicht nur die Vielfalt von 3.500 Pflanzenarten und einem Drittel der österreichischen Fauna, sondern erhält auch wertvolle Kulturlandschaftselemente.
Die Bauwerke in der Region, aus regionalen Naturmaterialien wie Holz und Stein errichtet, tragen entscheidend zur ökologischen Vielfalt bei: Sie bieten zahlreichen Tier- und Pflanzenarten Lebensraum und unterstützen wichtige ökologische Kreisläufe. Diese Strukturen fügen sich harmonisch in die Landschaft ein und unterstreichen die Verzahnung von Natur- und Kulturlandschaft, die den Nationalpark prägt. Diese Verbindung schafft nicht nur eine eindrucksvolle Kulisse, sondern leistet einen bedeutenden Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt in einem sich wandelnden Landschaftsbild.
Ein besonderes Element inmitten dieser Vielfalt an Kulturlandschaftselementen sind Trockensteinmauern (Klaubsteinmauern). Als Baumaterial dienen Steine, die zur Gewinnung von Kulturland sorgfältig aus Wiesen und Weiden gelesen und ohne Verbundmittel übereinander geschlichtet werden. Das Anlegen von Trockensteinmauern wird schon seit ca. 10.000 Jahren praktiziert und ist somit die älteste und gleichzeitig nachhaltigste, natürlichste und dauerhafteste Bauweise der Menschheit. Auf Österreichs Almen sind Trockensteinmauern bis in die mittlere Bronzezeit (ca. 3.500 Jahre v. Chr.) nachgewiesen und dienten vorwiegend als Weide- und Feldbegrenzungen sowie zur Wegbefestigung. Klaubsteinmauern bieten aber noch viele weitere Vorteile: Sie reduzieren Bodenerosion, stabilisieren Hänge, speichern Wärme und regulieren den Wasserhaushalt. Als Biotop fördern Trockensteinmauern die Biodiversität, wie kein anderes menschliches Bauwerk. Für mehr als 500 Pflanzen- und 100 Tierarten bieten Klaubsteinmauern wertvollen, vielfältigen Lebensraum. Vor allem Reptilien (z.B. Bergeidechsen) und Amphibien (z.B. Alpensalamander), aber auch Insekten, Schnecken und viele weitere Tiergruppen sind perfekt an die extremen Bedingungen in Trockensteinmauern angepasst. Eine botanische Osttiroler Besonderheit an Steinmauern ist beispielsweise der Nordische Streifenfarn. Betrachtet man das Bundesland Tirol gibt es im Bezirk Lienz mit Abstand noch die höchste Anzahl an Trockensteinmauern und auch in Kals stehen noch einige dieser Bauwerke. Seit 2021 ist das Handwerk des Trockensteinmauerns auch immaterielles UNESCO-Kulturerbe. Aber trotzdem lautet der aktuelle Status: Klaubsteinmauern sind in Österreich stark gefährdet.
Mit dem Wunsch das Bewusstsein zu schärfen und das Handwerk zum Bau und zur Erhaltung sichtbar zu pflegen, organisierte der Nationalpark Hohe Tauern Tirol vom 26. - 27. April 2024 einen Trockensteinmauer-Praxiskurs in Kals. Die Veranstaltung fand im Rahmen des LEADER-Projektes „Kulturlandschaftselemente in der Nationalparkregion Hohe Tauern Tirol“ und in Zusammenarbeit mit der Nationalpark Akademie statt. Unter Anleitung von zwei Trockensteinmauer-Experten, Rainer Vogler (Trockensteinmauern Schule.Österreich) und Gregor Wurnitsch, erlernten 21 Teilnehmer:innen die Handwerkskunst hautnah an einer verfallenden Trockensteinmauer in Großdorf (am Kulturwanderweg in den Dorfer Feldern). Die Herausforderung, für jeden einzelnen Stein mit seinem eigenen Form-Charakter ein geeignetes Plätzchen in der Mauer zu finden, wurde bravourös gemeistert. So wurden insgesamt mehr als 20 Meter der Stützmauer in Handarbeit von den motivierten Teilnehmer:innen saniert. Am 26. April 2024 wurde außerdem zu einem öffentlichen Fachvortrag im Gemeindesaal Kals eingeladen. Die Referent:innen Susanne Gewolf und Rainer Vogler versorgten 50 Gäste mit spannenden Informationen sowie beeindruckenden Bildern rund um das Thema Trockensteinmauern.
Wir hoffen, die Veranstaltungen haben Faszination und Interesse für das Handwerk des Trockensteinmauerns geweckt. Besonders freut es uns, wenn noch mehr Menschen zukünftig einen wertvollen Beitrag zur Errichtung, Erhaltung und Pflege dieser landschaftsprägenden Bauwerke leisten.
Wir laden alle Besucher:innen herzlich ein, beim nächsten Spaziergang am Kulturwanderweg eine kleine Pause bei der sanierten Klaubsteinmauer in den Dorfer Feldern einzulegen und zu beobachten, welche Pflanzen und Tiere sich in diesem aufgewerteten Lebensraum niederlassen.