Das Hochgebirge ist nicht nur ein Erholungsgebiet, sondern auch ein wichtiger Forschungsraum. Seit 2016 läuft rund um den Großvenediger ein umfassendes wissenschaftliches Projekt, das die Veränderungen im Ökosystem genau dokumentiert.
Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Gipfel des Großvenedigers in zartes Gold, während der Morgennebel sanft über den Almwiesen schwebt. Das Innergschlöss erwacht mit dem leisen Plätschern des Viltragenbachs, der sich den Weg durch das Tal bahnt. Es ist ein erhabener Moment im Nationalpark Hohe Tauern und der Beginn eines neuen Forschungstags in einer Landschaft, die zugleich urgewaltig und zerbrechlich wirkt. „Den Staubsauger habt’s auch eingepackt?“ Die unerwartete Frage reißt mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich blinzle – habe ich mich verhört? Ein Staubsauger? Für die Wildnis dort oben, wo der Wind den Staub der Jahrtausende trägt? Doch aus der Ferne kommt die bestätigende Antwort, trocken und gelassen: „Ja.“ Ich schüttle schmunzelnd den Kopf. Solche Kuriositäten gehören zur Feldforschung wohl einfach dazu. Es ist mein erster Sommer als Forschungskoordinatorin im Nationalpark Hohe Tauern, und was zunächst absurd klingt, lässt sich mit Sicherheit wissenschaftlich erklären.
Natur im Quadrat. Um den Wandel der Vegetation zu erforschen, legen Forschende Raster an, deren Lebensgemein schaften zukünftige Forschergenerationen erneut analysieren können.
Die schmale Zunge des Schlatenkeeses unter dem Großvenediger wird dann sicherlich verschwunden sein. c Christian Körner
Wir grüßen Wanderer, die schon früh in Richtung Gletscherweg gestartet sind; vielleicht geht auch noch ein Abstecher zur Neuen Prager Hütte, meinen sie. Während wir uns schließlich vollbepackt mit großen Rucksäcken auf den Weg machen, bleibt mein Blick noch einen Moment an der atemberaubenden Szenerie hängen. Gletschermilch schäumt türkis-weiß im Bachbett, ein Murmeltier pfeift aus sicherer Entfernung, über uns zieht ein Bartgeier seine Kreise. Die Natur ist hier unberührt, ungezähmt – und doch treten wir mit all unserer Technik in diesen hochalpinen Raum ein, um seine Geheimnisse zu ergründen. Der Staubsauger? Nun, ich lasse mich überraschen.
Seit 2016 widmet sich ein ambitioniertes Langzeitmonitoring-Projekt im Nationalpark Hohe Tauern der Erforschung hochalpiner Ökosysteme. Mit seinem interdisziplinären Ansatz ist es ein Meilenstein. In den Salzburger Sulzbachtälern, dem Kärntner Seebachtal und dem Osttiroler Innergschlöss werden systematisch und standardisiert Pflanzenvielfalt, Bodenlebewesen, mikrobielle Gemeinschaften sowie aquatische Ökosysteme und anderes mehr erfasst. Die Daten fließen in das Netzwerk von LTER (Long Term Ecological Research, ökologische Langzeitforschung) ein. In diesem Setting bieten die Dauerbeobachtungsflächen am Furkapass in der Schweiz (LTER-Switzerland, Alpine Research Station Furka, ALPFOR) und im Matschertal in Italien (LTER-IT25, Val Mazia/Matschertal) die einmalige Gelegenheit, mithilfe derselben Messprotokolle weitere echte Replikate im Raum zu erfassen. Damit lassen sich nicht nur die Ergebnisse aus dem Monitoring im Nationalpark Hohe Tauern besser absichern, sondern auch großräumige Muster genauer erkennen.
Denn während es selbstverständlich erscheint, Wetterdaten über lange Zeiträume hinweg zu erfassen, wird die Notwendigkeit des Monitorings biologischer Gemeinschaften oft weniger offensichtlich wahrgenommen. Doch gerade in der Erforschung von Ökosystemen ist die Beobachtung über lange Zeiträume unverzichtbar. Viele Veränderungen in Artengemeinschaften sind für unser bloßes Auge nicht wahrnehmbar, da sie entweder schleichend verlaufen oder kaum sichtbar sind. Erst die systematische Langzeitmessung macht diese Entwicklungen für Wissenschaft und Gesellschaft erkennbar. Potenzielle Einflussfaktoren zu erfassen, ermöglicht es auch, die Ursachen der Veränderungen besser zu verstehen. Solche Erkenntnisse sind essenziell für den Naturschutz – etwa wenn seltene Arten lokal verschwinden. Schließlich hilft das Monitoring, Reaktionen der Natur auf globale Umweltveränderungen zu identifizieren und langfristige Konsequenzen für Ökosysteme abzuleiten. Die Ergebnisse bestehen nicht nur in wissenschaftlichen Daten, sondern sie geben auch faszinierende Einblicke in einen Wandel, der sich über Jahrzehnte erstreckt und dessen wahre Tragweite oft erst in ferner Zukunft vollständig sichtbar werden wird.
Auf Schneeböden hält sich der Schnee bis in den Hochsommer hinein. c Christian Körner
Der heutige Tag wird sich dem terrestrischen Monitoring widmen. Dafür hat man bewusst Standorte über der Waldgrenze ausgewählt, wo sehr steile Schneeschmelzgradienten auf kleinstem Raum vorherrschen – wo sich also die Lebensbedingun- gen für Pflanzen, Bodentiere und Bodenmikroorganismen über wenige Meter Distanz drastisch ändern. Ein Schneeschmelzgradient beschreibt den Unterschied zwischen Zeitpunkten, zu denen der Schnee in verschiedenen Bereichen schmilzt. Entlang solcher Gradienten reichen die Mikrohabitate von schneearmen, exponierten Bereichen mitlanger Vegetationsperiode bis hin zu Flächen, die spät schneefrei werden und die kürzeste Wachstumszeit aufweisen.
Auch im Innergschlöss wurden solche Gradienten bestimmt. Sie erstrecken sich über sieben bis zehn Meter, unterscheiden sich in der Pflanzenbiomasse von der höchsten bis zur niedrigsten Produktivität und werden als Transekte bezeichnet. Die Transekte bestehen aus drei jeweils einen Meter breiten Streifen entlang eines Schneeschmelzgradienten, wobei der mittlere Streifen für nicht-invasive Untersuchungen genutzt wird. Die äußeren Streifen dienen dazu, Proben von biologischem Material zu nehmen. Um Störungseffekte zu vermeiden, darf dieselbe Stelle erst nach sechs bis acht Jahren wieder beprobt werden. Die „Erntepositionen“ müssen hierfür genau festgehalten werden, weshalb die Streifen in ein Quadratmeter-Raster mit mehreren Teilflächen unterteilt sind. Felsen oder durch Nagetiere gestörte Bereiche werden dabei ausgeschlossen.
„Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir gemeinsam mit den Nationalparkdirektoren und Mitgliedern des Wissenschaftlichen Nationalparkbeirats hier raufgewandert sind, um die besten passenden Flächen für das Monitoring auszusuchen“, sagt Christian Körner. „Es ist gar nicht so einfach gewesen, denn die Flächen müssen ja auch für die Forschergruppen halbwegs vernünftig und ungefährlich erreichbar sein, gleichzeitig soll so ein Transekt möglichst unberührt sein.“ Christian Körner ist ein österreichisch-schweizerischer Pflanzenökologe und Botaniker. Er erforscht die Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und ihrer Umwelt. Von Anfang an ist er dabei gewesen und so etwas wie der Visionär im Langzeitmonitoringprojekt. Auch heute begleitet er das Innsbrucker Forscherteam. „Man darf die Logistik nicht außer Acht lassen. Wir müssen die Flächen an einem Tag erreichen und die Messungen durchführen können. Und im Sommer kann das Wetter sehr schnell umschlagen.“
In der Zwischenzeit hat unsere illustre Gruppe über den steilen Hang an Höhe gewonnen. Einem Stichweg folgen wir zum tosenden Schlatenbach-Wasserfall. Grünerlengebüsch begleitet den Weg, der hier stellenweise über Holz- und Felsstufen zügig nach oben führt. Wir machen eine kurze Rast am Auge Gottes, einem kleinen dreieckigen See mit Schwimmrasen, und steigen danach weiter entlang der Moräne auf, bis wir schließlich die Transekte erreichen. Ein paar Walliser Schwarznasenschafe beobachten gespannt, was das Forscherteam aus den Rucksäcken holt.
„Der erste Schritt ist die Ernte der Biomasse“, erklärt Christian Körner, nachdem er die Probeflächen akribisch abgegrenzt hat. Ausgestattet mit Scheren, machen sich drei Studentinnen aus Innsbruck daran, in dem kleinen quadratischen Feld jeden Grashalm, jede Knospe und jedes Blättchen – also die Biomasse – bodennah abzuschneiden und in einem genau beschrifteten Papiersackerl zu sammeln. Das Ziel ist es, die Menge an gebildeter Biomasse im Verlauf der Vegetationsperiode entlang eines Schneeschmelzgradienten zu analysieren. Ein Vergleich der Daten über einen langen Zeitraum soll Aufschluss geben, inwieweit sich die Veränderung der globalen Temperaturen auf das Wachstum der Pflanzen auswirkt.
Eine typische Rasenart der alpinen Stufe ist die Krummsegge, hier in voller Blüte etwa eine Woche nach
der Schneeschmelze (oben), ein Schneebodenspezialist das Kleine Alpenglöckchen (unten). Eine ganz
andere Art ist dagegen der „Staubsauger“, mit dessen Hilfe man die oberste Bodenschicht analysiert. c Christian Körner
Julia Seeber, Forscherin an der EURAC in Bozen und an der Universität Innsbruck, bereitet ein paar Meter weiter ihre Feldarbeit vor. Sie ist Bodenökologin und beschäftigt sich mit Gemeinschaften von Bodeninvertebraten, wirbellosen Organismen insbesondere in (hoch)alpinen Böden. Dabei interessiert sie besonders, welche abiotischen Faktoren die Zusammensetzung dieser Gemeinschaften beeinflussen und wie sich dieses Zusammenspiel mit der Höhe verändert. Während sie kleine graue Probebehälter aus ihrem Rucksack holt, erläutert sie, dass aus methodisch-bodenzoologischer Sicht die individuen- und artenreichen Tiergruppen der Bodenmesofauna wie Milben und Collembolen (Springschwänze) geeignet seien, die ökologischen Veränderungen in derartigen speziellen Kleinlebensräumen anzuzeigen. Insgesamt wird sie hier heute 30 Bodenproben entnehmen, die später im Labor ausgewertet werden. Und da ist es auch, das Geräusch – der Staubsauger! Was passiert hier? Julia Seeber erklärt es: „In unserem allerersten Arbeitsschritt werden die epigäischen Tiere der Mesofauna mittels eines eigens dafür adaptierten akkubetriebenen Mini-Handstaubsaugers abgesaugt.“ Was bedeutet, dass damit auch Organismen gesammelt werden können, die auf oder in der obersten Bodenschicht leben. Die winzigen Lebewesen, die in den Poren der obersten fünf Zentimeter des Bodens zu Hause sind, werden später im Labor aus einer Bodenprobe extrahiert. Wichtig ist, dass alle Proben bis zur späteren Analyse kühl, im Fall der Bodenmikroben sogar tiefgefroren gelagert werden. Zügiges Arbeiten ist von größter Wichtigkeit – nicht nur weil sich dunkle Wolken bedrohlich über dem Knorrkogel sammeln.
Ein zentraler Baustein des Langzeitmonitorings ist die hohe Standardisierung der Messverfahren – ein Aspekt, der nicht nur die Qualität der Daten sichert, sondern auch deren Vergleichbarkeit über Jahrzehnte hinweg ermöglicht. Auf der Projektwebsite finden interessierte Leserinnen und Leser weiterführende Links zu unseren aktuellen Ergebnissen und auch zu den umfassenden Handbüchern. Diese Handbücher beschreiben detailliert, wie die einzelnen Module ihre Messungen durchführen und welche technischen Standards dabei einge halten werden.
Was die Wetterstation im Untersulzbachtal misst (hinten der Großvenediger), unterscheidet sich
deutlich vom Mikroklima, das im dichten Pflanzen bestand direkt über dem Boden
herrscht. c Christian Körner
Die im Feld entnommenen Proben und die Temperaturmesser, die Boden- und Lufttemperatur kontinuierlich aufzeichnen und deren Daten wir ebenfalls auswerten, liefern allein noch keine endgültigen Erkenntnisse. Zu aussagekräftigen Ergebnissen führen erst die vielen Stunden im Labor, die sorgfältige Analyse der Proben, das Zählen der Bodentiere und die molekulare Analyse der Mikroben sowie das Zusammenführen etwa der Temperaturdaten mit anderen relevanten Informationen an den Universitäten. Sie ermöglichen eine fundierte Interpretation der ökologischen Zusammenhänge.
Noch brennt die Mittagssonne auf uns herab und die Forscher:innen machen sich neben dem routinierten Arbeiten Gedanken über die Erkenntnisse, die sie seit Beginn des Projekts gewinnen konnten und die weit über reine Messwerte hinausgehen.
Biodiversität und Produktivität: Die erhobenen Daten zeigen, dass alpine Ökosysteme trotz extremer Umweltbedingungen eine hohe Artenvielfalt und Robustheit aufweisen. Gleichzeitig konnten feine Unterschiede in der Artenzusammensetzung und Produktivität festgestellt werden, die die Wachstumsbedingungen entlang des steilen Schneeschmelzgradienten widerspiegeln.
Langfristige Trends versus kurzfristige Variabilität: Die Ergebnisse unterstreichen, dass langfristige Datensätze erforderlich sind, um echte Trends von zufälligen Schwankungen zu unterscheiden. Dies ist entscheidend, um Auswirkungen des Klimawandels und anderer globaler Veränderungsprozesse zuverlässig zu interpretieren.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Die enge Kooperation zwischen verschiedenen Institutionen und Forschungsdisziplinen hat gezeigt, dass nur durch einen ganzheitlichen Ansatz, der sowohl terrestrische als auch aquatische Systeme einbezieht, ein vollständiges Bild der ökologischen Dynamik in alpinen Regionen entstehen kann.
Als Forschungskoordinatorin fühle ich mich tief verbunden mit der Arbeit, die wir hier leisten dürfen. Es ist nicht nur meine Aufgabe, den Ablauf der Untersuchungen wie heute im Innergschlöss zu organisieren, sondern auch, die Geschichte dieser Forschung zu erzählen – sowohl in der Wissenschaft als auch darüber hinaus. Die gewonnenen Ergebnisse sind weit mehr als nur Zahlen und Daten; sie sind der Schlüssel, um zukünftige Veränderungen zu verstehen und Lösungen für den Erhalt unserer natürlichen Welt zu finden.
Der Tag neigt sich dem Ende zu, als ich gemeinsam mit den Forscherteams ins Tal zurückkehre. Die Sonne ist längst hinter den Gipfeln verschwunden und der Himmel färbt sich in sanfte Purpur- und Orangetöne. Der Wind hat sich gelegt, die dunklen Wolken haben sich verzogen und nur das leise Rauschen des Viltragenbachs begleitet uns auf dem letzten Stück des Weges.
Die Daten, die wir heute gesammelt haben, werden uns noch lange beschäftigen. Gedanken zur Zukunft drängen sich auf: Was wird sich wandeln, wie wird sich das veränderte Klima weiter auswirken auf dieses fragile Ökosystem? Wird es in einigen Jahren noch dieselbe Flora und Fauna geben, die wir heute hier erleben? Die beeindruckende Bergwelt im Innergschlöss wirkt beruhigend, fast tröstlich. Der weite Blick über das Tal, das letzte Licht des Tages, das sich im Schlatenkees spiegelt, lässt mich innehalten. Es ist, als würde der Großvenediger die Geschichten der Zeit in sich tragen, und wir, die wir hier forschen, sind nur vorübergehende Zeugen eines Wandels, der uns alle betrifft.
Beitrag erschienen im Jahrbuch BERG 2026 (gedruckte Ausgabe): ISBN 978-3-7022-4320-3